Gemeinsam den Rahmen sprengen

«Black Lives Matter», «No justice, no peace», «defund the police», «ni una menos», «Heraus zum 1. Mai» sind Parolen aus verschiedenen Gemeinschaften, die über die letzten Monate hinweg nachklingen.

So unterschiedlich die politischen Forderungen der Bewegungen auch sind, so ist ihnen doch allen der Gang auf die Strassen gemein, um ihr Wort kundzugeben. Ihr Widerstand funktioniert als Sprechakt: Die Strassen werden okkupiert, Sichtbarkeit hergestellt. Warum ist der öffentliche Raum so entscheidend? Weil die Grenzziehungen des Sag-, Denk- und Lebbaren ebendort verlaufen. Im Öffentlichen Raum werden Rahmen abgesteckt, die es nicht zu übertreten gilt. Aber was passiert, wenn doch? Was passiert, wenn der Rahmen zu eng ist und nur eine spezifische "Gemeinschaft" miteinschliesst?

Ob du aus dem Rahmen fällst, lässt sich im alltäglichen Leben feststellen. Rahmen können sich subtil bemerkbar machen oder aber ganz offiziell in Form von Gesetzen, Fristen, Vorschriften und Budgets auftreten. Wer Zugang zu Bildung erhält, ökonomisch bevorzugt wird, Polizeikontrollen ausgesetzt ist, ja sogar der Zugang zu Reproduktionsmedizin bilden Beispiele sichtbarer Rahmen, die für eine spezifische Lebensweise ausgelegt sind. Manche Menschen machen nie die Erfahrung, nicht mitgedacht zu werden. Sie haben die Vorstellung, dass Menschen den Alltag genauso erleben, wie sie. So sind, wie sie. Einem schlechten, retuschierten Familienfoto gleich, auf dem alle lächelnd und sich ähnelnd in scheinbar liebevoll ineinander verschränkter Pose der*dem Betrachter*in entgegenblicken ­ grausig.

Aufbegehren von marginalisierten Gemeinschaften

Auf der Welt sind nicht alle gleich. Menschen werden aufgrund gesteckter Rahmen seit Jahrhunderten unterschiedlich behandelt, abgewertet, diskriminiert. Mensch wüsste das längst, würde jenen Gemeinschaften, die nicht mitgedacht werden, zugehört. Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund, queeren Menschen, Frauen*, alten Menschen, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die sich täglich mit ihrer Hautfarbe auseinandersetzen müssen, weil sie auf diese reduziert werden. Das Aufbegehren von marginalisierten Gemeinschaften zeigt der Gesellschaft die verheerende Lage von Gleichstellung, die Omnipräsenz von struktureller Gewalt und Ungleichheit.

Am 6. Juni protestierten über 5000 Menschen in Basel gemeinsam gegen den strukturellen Rassismus in der Schweiz / Foto: bajour

Es geht nicht um die Frage, ob es Rassismus gibt

Erstmalig wird durch eine politische Bewegung namens «Black Lives Matter» der strukturell verankerte Rassismus in der Schweiz an den Pranger gestellt. Und nein, hier geht es nicht um die Frage, ob es Rassismus gibt, ebenso wenig handelt es sich dabei um individuelle Probleme oder Einzelfälle. Rassismus ist eine institutionelle, systematische und globale Benachteiligung von BiPoC (engl. Black, Indigenous and People of Color) – eine Tatsache. Die Spuren rassistischer und postkolonialer Stereotypen begegnen uns alltäglich, subtil, scheinbar verharmlost, wie im Kinderbuch Globi oder ganz deutlich, wie durch die gewaltvolle Benennung eines Schaumkusses, worüber zum wiederholten Male debattiert wird. Solche Alltagsrassismen reproduzieren erlernte, rassistisch motivierte Zuschreibungen – ein Nachklang des Kolonialismus, der bis heute weitergetragen wird. Diskriminierende Ausdrücke dieser Art sind weder «übertrieben» noch «hysterisch», sondern gewalttätig und rassistisch, was insbesondere für Betroffene negative Konsequenzen hat. Jene Gemeinschaften, die damit nicht auf scheusslichste Weise karikiert werden, profitieren bewusst oder unbewusst, gewollt oder nicht von deren Herabsetzung, sprich sind automatisch auf der privilegierten Seite.

Die Tatsache, dass zurzeit verschiedene anti-rassistische und feministische Gemeinschaften in der Öffentlichkeit aufbegehren, ist eine Chance. Eine Chance, gemeinsam den Rahmen zu sprengen, dasjenige zu fordern, was ausserhalb liegt und die eigenen Privilegien zu nutzen: für die ökonomische und rechtliche Teilhabe von allen, unabhängig von äusseren Merkmalen.

Text: Tara Toffol

TaraToffol 9-2020 StrukturelleGewalt