Verlorene Nähe

Auch ich komme nicht darum herum, den Begriff «Gemeinschaft» im Zusammenhang mit Corona zu bedenken. Schon ein winziger ,unsichtbarer Virus ist zum gemeinsamen Nenner geworden, hat aus uns eine Schicksalsgemeinschaft gemacht. Sicher hat sich unser Leben damit sehr verändert und wir müssen Verzicht leisten. Mir fällt aber auf, dass im Moment eine Art Hymnus auf die Nähe zelebriert wird, der davon singt, wie unglaublich viel wir doch verloren hätten. Wenn ich aber an all die Fahrten im OeV – vor Corona – denke, sehe ich dort fast alles Menschen mit einem Handy vor der noch unverhüllten Nase. Rücksicht im gegenseitigen Umgang begegnete mir nicht so häufig. Events hatten in meiner Erinnerung möglichst gross zu sein; in der Masse zu verschwinden, jeder einzeln, schien ein Riesenbedürfnis. Andrerseits wurde Individualismus gross geschrieben. Das alles soll jetzt plötzlich anders geworden sein? Mir kommt es gar nicht so vor, als hätte vor Corona die Welt nach Nähe und Gemeinschaft gedürstet und jeder jeden ständig umarmt – vielleicht wären wir ja sonst in einer andern Situation?
Ist es nicht vielmehr die Sehnsucht nach Nähe, Rücksicht, Achtsamkeit, gerade weil dies alles nicht in dem Masse da ist? Ich glaube, es geht nicht darum, eine sogenannte frühere Normalität herzustellen, sondern überhaupt eine solche zu finden...
Die Corona-Situation hat aber sicher manchem die Augen dafür geöffnet, dass wir womöglich nur mit einem ernsthaft gemeinten Gemeinschaftssinn in dieser Welt überleben können.

Elsbeth Rüedi

Elsbeth Rüedi 9-2020 Corona